Saturday, July 2, 2011

Selektion: kultureller Motor oder individuelle Illusion?


Selektion – das hört sich ein bisschen nach Keksdose an: nur das Beste für die Gäste. Auch nach Darwin und seiner natürlichen Selektion. Warum also Selektion zum Strategie-Thema machen? Vor allem darum, weil Selektion ein kulturelles Prinzip ist, mit dem wir viel über uns selber sagen. Ein Selektions-Phänomen, das es längst mit Sprüchen wie „Ich habe heute leider kein Foto für Dich.“ in den aktuellen Sprachgebrauch geschafft hat.

Je mehr Selektion, desto mehr Ich?
Egal, ob bei Starbucks oder im Online-Turnschuh-Laden – überall wird uns heute eine unfassbare Menge an Auswahl geboten. In allen erdenklichen Formen und Farben dieser Erde lässt sich alles so persönlich und individuell zusammenstellen wie nur möglich. Die überbordende Vielfalt, aus der wir wählen können, spiegelt unsere narzisstische Seite wider: die Selbstbesonderung des Einzelnen, die Sehnsucht nach Individualität. Wir sind König Kunde und fühlen uns mit unseren Wünschen und Vorstellungen reflektiert.

Selektion schafft Orientierung.
Wie schön ist es, daß ich meine persönliche Selektion mit all meinen Mitmenschen teilen kann. Der Facebook Like-Button hat es vorgemacht – andere Social Network-Dienste wie Twitter folgen mit ähnlichen Angeboten. Was mir gefällt, was ich selektiert habe, das soll die Welt wissen.

Was Freunde vorselektieren, schafft Orientierung und Vertrauen - zahlreiche Online-Angebote machen sich dieses Prinzip zunutze. Seien es die von anderen Personen gelesenen Bücher auf Amazon, die vorgedachte Laufstrecke von meinem Nachbarn oder der Wein, den ich mir z.B. über Snooth empfehlen lassen kann und wo das Empfehlungsverfahren mit „Wine Rack“ als „social game“ funktioniert.

Je komplexer und vielfältiger die Welt, desto angenehmer ist es, wenn ich sie wieder zusammenschrumpfen und handhabbar machen kann. Obwohl Ratgeber wie „1000 Places to see before you die“ zwar vorselektieren - aber den Druck auf mich persönlich eher erhöhen, all diese selektierten Orte auch zu bereisen.

Wo selektiert wird, werden wir Besonders.
Erst, wenn ich aus einer Masse auserwählt bin – als besonders schön, talentiert, kreativ oder klug - bin ich jemand. Die Chance, zu den Besten zu gehören, spornt an. Das zeigt der Erfolg zahlreicher Casting-Formate oder Crowdsourcing-Kreations-Wettbewerbe. Immer mehr Plattformen schaffen die Möglichkeit, uns oder unsere Arbeit zu präsentieren und bewerten zu lassen. Wer nicht als Kandidat für „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s Next Topmodel“ in Frage kommt, muss kreativ werden. Zur Not lässt sich mal ein virtueller Freund gegen einen Burger eintauschen – da kann man froh sein, wenn man nach Kommunikations-Kampagnen wie von Burger King noch zu den Auserwählten auf der Freundesliste im Social Network verblieben ist.

Wer die Wahl hat, hat die Macht!
Warum selektieren wir also so gern? Vielleicht, weil es uns das Gefühl von Einfluss gibt. Wer sich nicht selber zur Wahl stellt, der ist zumindest hochkompetenter Mitjuror auf der Couch. Was wir eigentlich alle doch am liebsten sind – wie Internet-Theorien wie die der „1-9-90-Regel“ von Jakob Nielsen zeigen: Einer produziert – neun kommentieren und 90 gucken zu.

Wer also nicht selber etwas Kreatives schafft, kann doch zumindest im Voting seine individuelle Selektion treffen. Wenn die Auswahl aus dem Volk am Ende nicht gefällt, versucht der Hersteller, einfach, ein bisschen nachzuhelfen – um sich prompt ins nicht abwaschbare Fettnäpfchen zu setzen - wie gerade bei Pril. Denn wer basisdemokratische Auswahl verspricht, der wird den Zorn eben dieser Menschen zu spüren bekommen, wenn das Unternehmen mit ihrer Selektion nicht einverstanden ist.

Mit der Möglichkeit der Selektion durch Alle wird also mehr als die Illusion von individueller Macht und Einfluss wahr. Nur sonderbarerweise nutzen wir sie am liebsten im Privaten und im Konsumbereich – bei Politik scheint uns die Auswahl nicht zu reichen – oder woran liegt es, das es hier eine kontinuierlich steigende Selektionsmüdigkeit gibt?

Echte Selektion ist nicht nur Qual, sondern Illusion.
Mich hat früher die Speisekarte beim Chinesen mit ihren gefühlten 1000 Gerichten überfordert – auch heute manövriere ich mich mit dem alten Trick durch’s Leben: ich wähle, was ich kenne. Von den Neurowissenschaftlern wissen wir, das viele Selektionsprozesse im Alltag sowieso von unserem Autopiloten ausgeführt wird. Ich mache es mir also damit nicht nur einfach – sondern ich gehe nicht einmal bewusst den einfachen Weg.

Für mich erklärt es auch, warum Fokusgruppen als Testinstrument oft so herrlich sinnlos sind. Der Mensch wählt lieber das Bekannte. Und er weiß einfach nicht, was er will – bevor er es leibhaftig und in der Wirklichkeit vor sich sieht.

Das die Möglichkeit der Selektion für uns oft nur Illusion ist und Verwirrung stiftet, erklärt uns Dan Ariely sehr schön in seinem Buch „Denken hilft, nützt aber nichts.“ Nicht nur zeigt er humorvoll auf, wie die Qual der Auswahl und von unseren eigentlichen Zielen ablenkt – weil wir uns unnötig lange damit aufhalten, den – eigentlich sinnlosen – Versuch zu unternehmen, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. Er erklärt auch, wie wesentlich für uns der Kontext ist, in dem wir selektieren:

„Die meisten Menschen wissen nicht, was sie wollen, bis sie es im Zusammenhang sehen. ...Alles ist relativ, und genau das ist der Punkt.“

Damit kann er auch wunderbar erklären, warum teure Vorspeisen im Restaurant den Umsatz erhöhen, selbst wenn niemand sie bestellt. Einfach darum, weil wir uns in diesem Kontext gern für das zweitteuerste Gericht entscheiden.

Also: Wählen lassen, statt selber zu agieren?
Selektion ist schön – aber bei vielen Dingen nur schwer rational steuerbar, zumindest sehr anstrengend.

Ich frage mich, ob das Prinzip Wundertüte sich kulturell wieder stärker durchsetzen müsste bei soviel Selektions-Wunsch-Denken. Überlassen wir unser Leben und unsere Entscheidungen doch viel häufiger mal durch Angebote wie „Chatroulette“ bestimmen – die genau das Überraschungsmoment zum Erfolgskriterium machen.

Um es mit Forrest Gump zu sagen:
„My momma always said, "Life was like a box of chocolates. You never know what you're gonna get."

Lassen wir uns doch einfach mal ein bisschen mehr überraschen.

Der Blogpost ist als gekürzter Artikel in der new business vom 27.06.2011 erschienen - dem Special zur jährlichen open source der APG, die in diesem Jahr unter dem Thema "Selektion" stand. Mehr zur open source, den Referenten und Beiträgen auf der Homepage der APG.