Thursday, June 10, 2010

Kontext & Marke. Versuch einer Erfassung.



Image: courtesy blprnt_van/ flickr

Das diesjährige Planning Barcamp in Hamburg findet unter dem Titel „Kontext“ statt. Mein erster Gedanke: „Oh Gott, was heißt das denn jetzt?“. Ein weit gefasster Begriff, auf den ersten Blick mühsam. Jedenfalls für mich. Also her mit einem gedanklichen Rahmen.

Kontext - was heißt das?

Laut Wikipedia:
"Kontext (für „Zusammenhang”, Plural: Kontexte, von lat. contexo „zusammenweben, zusammensetzen” und contextus „verflochten, fortlaufend”) ...im Sinn der Sprachwissenschaft:...bezeichnet alle Elemente einer Kommunikationssituation, die das Verständnis einer Äußerung bestimmen. Typologie bzw. Einteilung und damit einhergehende Terminologie sind unterschiedlich. Unterschieden wird zum einen zwischen dem sprachlichen Kontext (ähnlich: verbaler Kontext), ...und dem situativen Kontext (ähnlich: non-verbaler Kontext)."

Aha.

Kontext erschafft Geschichten.
Image: Idee Wieden & Kennedy/ Bild psfk Blog.

Der Kontext entscheidet, wie wir Inhalte wahr nehmen. Es kann sich also um das selbe Objekt, die selben Inhalte handeln – das „Drumherum“ schafft jedoch eine andere Wahrnehmung. Das Projekt von „Significant Objects“ zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie zugeschriebener Kontext aus einer billigen Flohmarkt-Tasse ein individuelles Sammlerstück mit spannender Geschichte macht – und damit aufwertet. Ähnlich ist die Idee von SKU - einem Store, der monatlich wechselnde "mysteriöse Objekte" in einer black box anbietet, die von wechselnden, prominenten Kuratoren ausgewählt werden. Nicht das Objekt, sondern der Kurator und sein Kontext bestimmen damit den endgültigen Wert.

Kontext - ein wichtiger Baustein der Systemtheorie.

Image: IT Infothek

Auch die Systemtheorie und das u.a. daraus abgeleitete systemische Coaching nimmt auf das Thema Kontext Bezug:

"Systemisches Denken ist kontextuelles, situatives und ganzheitliches Denken. Es geht davon aus, dass Ereignisse und Probleme nur in ihren kulturellen, sozialen und personalen Bezügen verstehbar sind. ... Theoretischer Hintergrund ist neben der allgemeinen Systemtheorie vor allem die Kybernetik, die sich mit Funktionen und Gesetzmäßigkeiten von Systemen beschäftigt. Systeme sind dabei sowohl berufliche als auch familiäre oder organisatorische Systeme und Kontexte. ... In der systemischen Sichtweise ist es zentral, dass der einzelne Mensch nicht ohne seinen Beziehungszusammenhang verstehbar ist: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Gefragt wird nicht mehr nach den einfachen Ursache-Wirkungszusammenhängen, sondern welche Bedeutung hat ein Problem/ Thema im Kontext seines Auftretens und für wen? ...Die Basis systemischen Denkens ist der Konstruktivismus und dessen wesentliches Postulat, dass die Wahrheit als solche nicht erkennbar ist, sondern dass Menschen sich unterschiedliche Realitäten konstruieren. So gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern eher unterschiedliche Perspektiven. Das entscheidende Moment ist der Einfluss der Spielregeln eines Systems. ....."
(zitiert nach S.Nufer auf dieser Homepage)

Was für Menschen im Coaching Sinn macht, kann für Marken nicht so falsch sein. Damit ist kontextuelle Markenführung systemische Markenführung. Wie neu wäre das?

Kontext = nicht neu, oder?
Generell lassen sich unterschiedliche Kontext-Ebenen finden: Marken-Kontext (Markenherkunft, Werte, etc.). Media-Kontext (s. die Buzzwörter channel planning, umfeldbezogene Werbebotschaften etc.). Zielgruppen-Kontext: persönlicher Kontext und Bedeutungs-Zuschreibung über kollektive Werte, Trends, Bedürfnisse. Marken scheinen nicht erst seit heute darum bemüht zu sein, kontextuell zu kommunizieren. Oder?

Einige Beispiele lassen sich schnell finden.
Gesellschaftlicher Kontext: Die Basis von kontextueller Kommunikation. Macht Sixt schon lange. Aber im Prinzip nur eine klassische Anzeige. In diese Kategorie würden auch Greenpeace Logo-Rebranding etc zur aktuellen BP-Katastrophe passen.
















Zielgruppen-Kontext. Aktuell von H & M die Festival-Kollektion zum Beginn des open air Sommers. Kontext durch saisonales Thema, sinnvolle Bestandteile (neben Fashion auch Zelt und  Schlafsack), kontextuell präsentiert von aktuellen "It-Girls und Boys" als Models (und in der Zielgruppe adhoc dechiffrierbar: die Musikerin Lou Doillon sowie Lizzy Jagger, Josh Beesh).

Von was für einem Kontext sprechen wir?
Oft in Bezug auf die Marke im eigenen Kontext, der Markenhistorie, dem Wettbewerbskontext. Im Kontext mit aktuellem Geschehen. Die Marke im Medienkontext (Channel Planning). Der aktuelle Diskurs dazu nimmt aber vor allem Bezug auf die Entwicklung zu einem stärker individuell geprägten Kontext - "my context" statt "brand context".

Wie lässt sich "persönlicher Kontext" definieren?
Drei Ebenen, auf denen persönlicher Kontext entsteht. Im gesellschaftlichen als auch individuellen Bezug – und in der Nutzung von bestimmten Medien und Kommunikationsmitteln.

1. Gesellschaftlicher Kontext - Themen mit zeitlichem Bezug und Relevanz. Saisonales wie Weihnachen wäre aber zu generell. Eher temporäre, zufällige Ereignisse (s. BP Oilspill) oder allgemeiner Kontext, der für das Indivdiuum relevant ist.
2. Zielgruppen-Themen - was beeinflusst das individuelle Leben? Was wird wie gesucht, genutzt, gelebt? Welche Rolle oder Lebenssituation kann aufgegriffen werden (Mutter, Musik-Freaks, Öko-Fans, etc.).
3. Zielgruppen-Medien - wie und wo treffen Erlebniswelt und Markenwelt medial aufeinander?

Individueller Kontext schafft Relevanz.


Nur wenn wir verstehen, wie Themen, Images, Marken im individuellen Kontext mit Bedeutung versehen sind, können wir die Kommunikation daraufhin ausrichten. In vielen Fällen agiert die Zielgruppe selber und definiert Marken um, schafft einen neuen Kontext. Wie z.B. seit Ende der 80er in der regelmäßigen Um-Kodierung von Marken in der Hip Hop-Szene - mit Run DMCs "my adidas", Rap zu „pass the courvosier“, einer Neuinterpretation der Segelmarke Helly Hansen. Neuer Kontext addiert eine neue Facette zum bisherigen Markenbild. Allerdings oft jenseits des Markenmanagements. Und mit einem sehr ungewissen Verlauf. Wie wichtig ist es also, die Marke stärker aus einem Markenkontext heraus zu inszenieren? Oder sollte einfach alles nur auf den individuellen Zielgruppenkontext ausgerichtet sein?

These: Zielgruppen-Erlebnis ist alles.

Helge Tennø, der Autor der Präsentation unten, befindet:
"do not interrupt if there is no relevance/ no fitting context for the message."

Context, Value and The New Marketing Economy



Kontext wertet die persönliche Story auf.
"people access marketing inside situations because it adds value
to their personal story/ context."

Gute, kontextbasierte Kommunikation:
  • verbindet und reflektiert
  • verbessert und hebt hervor
  • addiert hinzu und hilft
  • bietet eine Bühne für persönlichen Kontext.
Wenn Kontext King ist - welche Rolle spielt das Produkt?
Welche Rolle Marke und Produkt spielen - hier sind, wie vorab angedeutet, die Meinungen zweigeteilt. Zwei Thesen sind dabei im Umlauf - die eine davon Konextgetrieben: Nicht das Produkt, die Marke ist das wichtigste – sondern der soziale Kontext, in dem es gezeigt wird. Die Gegenthese: erst das Produkt – dann der Kontext.


Alles reine Meinungssache? Nicht allein mein Hintergrund als klassischer Brand Planner gibt mir das Bauchgefühl, das Zielgruppen-Erlebnis nicht alles ist. Sondern das es sich um die nicht ganz einfache Aufgabe handelt, Produkt und Erlebnis sinnvoll zu integrieren.  Helge Tennø sagt es in seiner Präsentation: "adding value". D.h., Marke und Produkt müssen einen relevanten Kontext finden, in dem sie wertschöpfend für Menschen agieren. Wertschöpfend aber auch im Sinn der Marke. Kontext, der aus der Marke heraus und in Verbindung mit der Marke glaubwürdig ist. Dabei wird schnell klar, das einige starke Marken eher im freien Kontext-Raum der Zielgruppe experimentieren können - während andere sich näher an wirklich marken- und produktbezogenem Kontext bleiben sollten.

Interessant dazu ist die "Social Currency"-Studie on VivaldiPartners.

"Social currency is not a communications approach, it is an experiential concept. It develops from experiences that consumers have in the context of their daily life."


Die Vivaldi-Studie zeigt: es geht nicht um oberflächlichen Kontext und reines Erleben, sondern um Tiefe, Relevanz und glaubwürdige Anbindung an Produkt und Marke. Produkte und Marken schaffen dabei Wert - was ganz unterschiedliche Dimensionen hat, die alle Facetten der "social currency" einer Marke sind: z.B. Information, Identität, Konversation. Dabei schneiden Marken besser ab, die tiefer gehenden, stärker produktbasierten, glaubwürdigen Kontext entwickeln (Beispiel: Wendy vs. Burger King - höherer Grad an Markenbotschaftertum unter den Wendy-Fans, größere "Flüchtigkeit" bei Burger King - obwohl Maßnahmen wie "Sacrifice a friend for a burger" für Aufmerksamkeit sorgen - und sehr konkret Bezug auf den medialen Zielgruppen-Kontext (Facebook) nehmen.)

Was kommt als nächstes?
Zahlreiche Unternehmen – vor allem in den USA – haben angefangen, Plattformen wie Foursquare für kontextuelle Kommunikation zu nutzen. („Belohnungs-Deals“ wie Rabatte für Mayors u.ä.). (Noch mehr hier und hier)

Die meisten Beispiele zu foursquare Kampagnen sind nach wie vor US-basiert – denn ohne ausreichende Verbreitung fehlt oft der Reiz, das gemeinsame Spielerlebnis. Und es sind Marken aktiv, die schnell und eher taktisch eine sehr junge, oft sehr technikaffine Crowd ansprechen.


Ein Beispiel von vielen: die Marc Jacobs „Fashion Victim“ foursquare Kooperation zur Fashion Week NY 2010. Über eine eigene Fashionista-Badge wurde ein Pool von Teilnehmern für die Verlosung von Fashion Show-Tickets kreiert. Generell hat foursquare und die dortige kontextbasierte Werbung oft einen Retailbezug (s.Starbucks, Domions Pizza, Diesel).

Spielerisch wird Kontext einfacher nutzbar.

Diesels „Faces of Stupid“ campaign – mehr dazu hier bei Mashable

Die "Be Stupid"-Kampagne von Diesel hat u.a. mit der "Faces of Stupid" Website einen sehr spielerischen Ansatz, mit dem sie die Zielgruppe zur Interaktion mit der Marke bringt. Neben der Option, selber als „Face of Stupid“ präsent zu sein, wurde hier u.a. auch Foursquare als Promotion-Tool eingesetzt.

Auffällig ist, das vieles einen sehr spielerischen Anteil hat, um kontextuell das Leben zu bereichern. Denn zurück zur Definition von Kontext - eigentlich geht es ums „verweben/ einweben“ in den individuellen Lebenskontext. D.h., es muss integrierter, fast „unmerklich“ als Werbung agieren. Also am besten: spielerisch. Wie z.B. foursquare ja selber als Plattform eine spielerische Herangehensweise für den User nutzt, um im Bereich Location Based Services (LBS) möglichst schnell ein dichtes Netz von Nutzern aufzubauen. Womit wir beim Thema „Spielen“ sind. Die Gaming Industrie wird gern als ideale Lern-Quelle für die Kommunikations-Branche zitiert.  Daher hier eine Präsentation  die sich zwar an UX Designer wendet, aber das Thema schön aufbereitet.



Fragen, die mir bei diesem breiten Thema immer noch so halb offen erscheinen:
  • Hat die Vivaldi-Studie recht - und bedeutet guter Kontext automatisch Produktbezug, um überzeugende Arbeit für die Marke zu leisten?
  • Ist kontextbasierte Kommunikation automatisch am besten spielerisch in der Aufbereitung?
  • Was für Beispiele gibt es denn, die aktuell wirklich dazu präsent sind - in Werber- und Verbraucher-Köpfen?

1 comment:

  1. Systemtheorie: „...Welche Bedeutung hat ein Problem/Thema im Kontext seines Auftretens und für wen?...“ wobei ich persönlich den Schwerpunkt auf "für WEN" setze.
    Denn nein, Kontext ist nichts Neues und beschäftigt Marken schon lange. Beispiel 2006 Unilever Dove, die mit ihrer Kampagne „Wahre Schönheit“ für die „normale“ selbstbewusste Frau stehen wollten. Heute, 2010 liegt G&J Frauenzeitung „Brigitte ohne Models“ ganz weit vorne.

    Also nicht mehr Zielgruppen sondern Menschen verstehen. Versuchen menschliche Lösungen zu finden, die auf Marken einzahlen,- oder auf Produkte?
    Wie wird die Relevanz, die gefordert ist, eher erlebbar gemacht?
    Mit Marken? Oder Produkten die wirklichen, greifbaren Mehrwert bieten?
    Ideal: Ein Zusammenspiel aus beiden, wie die Vivaldi-Studie vorgibt. Produkte die individuelle Lösungen kreieren und so auf die Marke einzahlen.

    Auffällig für mich sind die zahlreichen digitalen Beispiele. Sie machen deutlich, dass die Interaktion zwischen Mensch und Marke auf dem digitalen Weg leichter fällt. Dank Rückkanal, kann schneller verstanden werden, in welchem Kontext sich die Menschen bewegen, was sie umtreibt, berührt und wie Lösungen für sie geschaffen werden können. Nicht nur spielerisch sondern mit direkten Vorschlägen, Anweisungen, Hilfestellungen können Marken mit den richtigen Produkten Menschen bedienen, faszinieren und für sich einnehmen: „Verwerben/einwerben“ in den individuellen Lebenskontext.

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